dem zu liebe

Sprachspiele

Er sagt, sie hätten das Geld notwendig. Er müsse den Text fertig stellen. Aus der Not heraus verlängert die Sprache ihr Leben nur so weit wie eben nötig, aus Notwehr. Sobald ein Versteck entdeckt, verliert sie ihre Kraft und schläft ein. „Der Weg ist das Ziel, Papa“, sagen sie. „Ich weiß, man weiß sich zu verkaufen“ antwortet er. Der Cursor wartet, blinkt ungeduldig.

Keine Verfügungsgewalt strahlt auf die Formierungen der Zeichen, die am Bildschirm erscheinen. Sie fühlen sich verlassen. Von den kreischenden Jahren, den drückenden Schuhen, den Folterungen des Herauswachsens aus der Kindergrippe. Sechzehn Jahre bewussten Lebens müssen sich doch wie von selbst erzählen lassen. Doch die sonst so selbstverständlichen, wie einstudierten Sprachpirouetten kommen den beiden Schwestern nicht über die Zunge. Im selben Moment fühlen sie den stechenden Schmerz in der Brust, das klebrige, schwere Organ im Mund. Beide packt das Bedürfnis, laut zu schreien, Grimassen zu schneiden oder sich selbst zu zwicken.

Spannungsentladungen sind ein trostreicher Segen an besonders aufgeladenen Tagen. Bella und Jennifer sitzen einander gegenüber, spiegeln sich gegenseitig, da in Großmutters Haus Spiegel abgelehnt werden. Der Grund dafür ist Großmutters ewig verschwiegener Wunsch, bildhübsch zu sein, was sie in keiner Lebensphase erreichte. Hingebungsvoll gehegte Bilder von sich selbst lassen sich allerdings so lange aufrechterhalten, wie sie keine wirkliche Verneinung erfahren. Nur das von ihr selbst betrachtete eigene Spiegelbild hätte ihre Vorstellungswelt zerstören können. Sie verhinderte geschickt, über die allernotwendigsten Spiegelvorrichtungen keine zusätzlichen im Haus zu haben. Das ist eine der vielen Eigentümlichkeiten der Großmutter, die die Schwestern nur zum Teil verstehen. Sie passt jedoch in das Gesamtbild, das sie von ihr gezeichnet haben. Eine biedere, verzweifelt verängstigte und verkrampfte Frau. Bestimmte Handlungsmuster müssen formalen Etiketten entsprechen, die unnötig und verstörend wirken.
In den Nachahmungen jeder Muskelbewegung sich im Gesichtsfeld befindlicher Körperteile liegt große Zuneigung der Schwestern. Sie verschmelzen und können die sie umgebende Schwere der unbeweglichen Gegenstände in Großmutters Haus vergessen. Bis in den Schlaf führen die beiden ihr Spiegelspiel fort, bis die dunklen Tische und Stühle in ihrem Zimmer in der Luft schweben und tanzen. Die herrlichsten Erzählungen generieren sie auf diese Weise. Typische Märchenmomente mischen sie mit alltäglichen Gegenständen. Im Mittelpunkt stehen immer sie selbst, wobei sie sich für jede neue Geschichte ein anderes Aussehen und andere Eigenschaften zuschreiben. Schließlich entscheidet der Zufall über den Verlauf des Traumes, das Ende handeln die Schwestern miteinander aus. Immerhin gilt es ja, ihre Autonomie zu beweisen, in Abwesenheit familiärer Vorgesetzter.

„Wirst du diesen Stuhl vermissen?“

Welche Einsätze riskiert werden müssen, geht aus den Anweisungen nicht deutlich hervor. Sie müssen raten, spielen Katz und Maus, bis endlich die Falle zuschnappt und ein Rettungsanker durch die Qualen der Nacht am festen Grund ihrer Überzeugungen festhält. Das Spiel des Lebens läuft. „Eine letzte Runde, was meinst du?“

Sie müssen ihren Chauffeur Leo erst aus seiner wohlverdienten Ruhe wecken, ehe dieser merkt, dass seine Lieblingskundinnen eingestiegen sind. „Wo wollen die jungen Damen denn hin?“ fragt er sich selbst aufmunternd. „Wissen Sie doch, Sir!“ erwidern die beiden in sarkastisch befehlerischem Ton.
„Harrr. Ganz recht, dann also wie immer zur Schwebebahn.“ Leo gibt dem Pferd das Zeichen und der Einspänner fährt los. „Aber vergessen Sie bitte diesmal nicht, die richtige Abzweigung zu nehmen. Am rosa Selbstbedienungsladen mit den Honig überzogenen Mandeln vorbei, über die Hängebrücke zum Hangar.“ bittet Jennifer. „Tja, gnädiges Fräulein, ich weiß bescheid, welcher Weg euch am liebsten ist, aber ihr wisst ebenso gut was passieren kann auf dieser Abzweigung.“ Selbstredend fährt die märchenhafte Kutsche nur soweit diese Diskussion fortgeführt wird.

Sie durchschreiten ein fantastisches Innenuniversum, das umso armseliger aussieht je weiter es sich vom Rubicon entfernt. Aber nur die konsumierende Perspektive ist nicht mitten im verschlungen verspielten Strom. Nur sie weist jene Distanz auf, die notwendig ist um den Strom als Rubicon zu deuten. „Welch Farbenpracht birgt Möglichkeiten, die nicht in handhabbarere Sprachen übersetzt werden kann“ sagt er vor sich hin.

„Aus dem Dickicht eurer Liebesfiktionen flüchten wir uns lieber in unsere Lysa.“ Beschwörend sprechen sie ihr Lippenbekenntnis vor einem Schrein vergilbter Spuren aus. Trauerversunken tauchen sie in ihre Versprechungen hinab, nie werden sie anstoßen. Die Erzählung läuft einfach ewig weiter. Romantische Ideale und ökonomisierte Zwischenmenschlichkeit gibt es nicht unter dem Meer. Hier ist alles viel zu langsam als dass jemand verstohlen so tun könnte als ob.

„So, da wären wir, meine Damen.“
„Danke, Leo.“ Am Knotenpunkt der Erzählung angelangt, hält ihr Fahrzeug neben dem Trevibrunnen. Leo steigt aus, zieht die Hosenbeine über die Knie und springt in den Brunnen. Er wartet. Langsam und kaum hörbar nähern sich Schallwellen, die Wasseroberfläche reagiert. Leos Finger bewegen sich synchron rhythmisch. Die Wellen konturieren, zeichnen Bilder in die Luft. Sprechblasen in Wolkenform bilden sich, werden zu sprechenden Köpfen. „Der kleinste gemeinsame Nenner“ stellt Jennifer zufrieden fest. „Ja, der Beat, der Jacksonbeat“ flüstert Bella in genießerischer Erregung. „Pop-Pop-Pop-Pop“ ploppt es aus den Köpfen. „Ein As, ein Fis, ein F und ein D“ summt Jennifer die Melodie nach. Es scheint als würden alle Dinge aus den Fugen gehoben. Bella schreit. „Es bleibt in der Schwebe, es steigt und fällt und schwebt!“ Sie dreht sich, die Arme ins Unendliche richtend, im Kreis. „Es könnte ewig so weiter gehen. In der Endlosschleife des Beats.“

„Aber was jetzt?“ fragt er.

„Wunder überlegen nicht zu geschehen. Wir dürfen nicht überlegen, nicht nachdenken oder formulieren“ antworten die Schwestern aufgeregt.
Okeanos reflektiert die ewig wiederholten Sprechwolken und hallt zurück: „Fließen und die Formationen geschehen lassen.“
Bella glaubt sich zu erinnern. „Das ist es, die ewig fließende Zeugung!“
Aus dem Wald heraus kommt die alte, gebückte Frau, ihr Gesicht unkenntlich unter einem Schleier verdeckt. Neben ihr trabt steif und ungelenkig der Elch, seine Nüstern weit gebreitet. Je näher sie kommen, desto heftiger schnaufen sie. Jennifer und Bella sind nicht sicher, weshalb sie so heftig atmen. „Ein Interpretationsspielraum!“ schreit Leo, während Bella nervös zwischen Jennifer, Leo und den beiden aus dem Wald erschienen hin und her blickt. „Du fürchtest dich, erschrickst vor deinen eigenen Gedankenbildern an Verführung, Verfolgung und Falle“ zischt die alte Frau und der Elch keucht: „Das junge Mädchen auf der Flucht vor der Lust.“ Die Knospen dieses Erzählstranges beginnen sich auf bekannten Wegen auszubilden. Jennifer und Bella denken beide an die gelenkte Aufmerksamkeit. Das Märchen sollte in den Armen einsamer Prinzen eingebettet enden. In der Mitte des Waldes befindet sich der Friedhof jener Prinzen, die sich selbst das Leben nahmen. Aus dem Quellwasser des Okeanos wäre nur noch das geflügelte Wort zu holen. Im selben Moment erkennen die beiden Schwestern, dass auch ihr Strom nur in eine Richtung fließen kann. „Siehst du auch wohin das Spiel uns treibt?“ In Panik versetzt finden sie die Parallelen. Das Chronologische, das Dichotome, das Dialektische, das Intentionale. Doch sie wussten was sie tun konnten, um nicht so, unter diesen Umständen und auf diese Weise regiert zu werden.

Nur diese Karteikarten hat er gefunden. Nichts als unzählige dieses blanken kleinen unpersönlichen Stücks Papier. Er stellt sich vor, wie diese Merk- und Lernhilfen in einer Fabrik hergestellt werden. Von Maschinen, die die exakte Passung zurechtschneiden. Aus weißem Stoff, der Leben erzeugen kann, überlebenslang dauern kann. Ob er auch zerstören kann? Was bedeutet die vor ihm sich breit machende Unordnung der Ordnungsträger?

„Wir sind keine verlorenen Seelen, die heimlich der Tragik ihres Schicksals entweichen wollen. Wir tun auch nur so als ob, aber wir tun es in gegenseitigem Einverständnis.
Wir haben Not in unserem verträumten Sein. Der Verzauberte Boden ist verseucht, ein Super-Gau märchenhaften Ausmaßes. Unsere Erfindungen haben sich grimmig entpuppt, erkennen sich wieder und handeln gegen uns. Wir haben uns ins Abseits gespielt. Die Sprache lässt uns nicht mehr zu, wir fragmentieren jetzt die Geschichten und warten auf Dich!“

Ein Ende muss es sein, das, schon einmal angedeutet, bereits angelegt war, mit dem jedoch niemand rechnen würde. „Weißt du noch als wir gemeinsam Q gelesen haben? Ja, die panoptische Begrenzung des menschlichen Scheins. So analytisch, so trocken und doch pathetisch. Aber auch so wahr. Und weißt du auch noch, als die zu keiner sinnvollen Artikulation mehr Fähigen einfach ihren Mund öffneten um endlos aaahhhh zu sagen? Aaahhhh …“

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